Chuuto Hanpa 中途半端

Was machen wir da eigentlich? Bujinkan Budo Taijutsu. Die Schule, die Hatsumi Sensei unter dem Begriff „Bujinkan“ gegründet hat, in der er 9 alte Japanische Kampfkünste lehrt, in
denen er das Oberhaupt (Soke) ist. Wir lernen, zu fallen, zu werfen, zu hebeln, zu schlagen, zu treten, zu drücken, zu blocken, mit verschiedensten Waffen umzugehen, Katas, Bewegungsfluss, Gleichgewichtskontrolle…

Aber ich meine, wir lernen darüber hinaus noch viel mehr. Ich meine, das, was uns Hatsumi Sensei in seinem Unterricht alles mit an die Hand gibt, hilft uns nicht nur ein der Anwendung als „Technik“, sondern das meiste lässt sich unglaublich gut auf unser gesamtes Leben übertragen. Ich denke oft darüber nach, und finde – häufig auch unvermittelt – häufig Parallelen, die mich auf meinem (Lebens-)Weg weiterbringen.

Im Unterricht spricht Hatsumi Sensei, wenn er etwas vorzeigt, oft von „hanpa“ oder „chuuto hanpa“ (sprich „Tschuhto Hanpa“). Da ich heute von ihm eine Kalligraphie mit diesem Ausspruch bekommen habe (siehe Bild unten), möchte ich meine Gedanken dazu mit euch teilen.
Was also heißt das denn überhaupt? Schon die simple Eingabe in das Übersetzungsprogramm eines großen Internetkraken ergibt erste Hinweise:

中(chuu): Mittel
途(to): Anwendung (was man macht)
半(han): Hhlfte
端(pa): Ende

Gibt man 中途半端 ein, steht da „Halbheiten“, was gar nicht so übel ist. „Chuuto“ bedeutet soviel wie „auf halbem Weg“, „auf dem Weg“. „Hanpa“ in etwa „vage“, „unklar“, „weder auf
einer Seite, noch auf der anderen“, „nicht beendet/fertig“. Im Training bedeutet das für uns, dass wir die „Technik“, die „Bewegung“, das, was wir gerade „tun“ eben nicht tun, nicht zu Ende bringen sollen. Wir geben dem Trainingspartner (oder im Ernstfall dem Gegner) nicht das, worauf er reagieren, und gegen das er arbeiten kann.

Im Gegenteil: seine vom Unterbewusstsein gesteuerten Reaktionen auf unsere Aktion (die wir nicht vollständig ausführen), gibt uns viele zusätzliche Möglichkeiten, neue (nicht zu Ende ausgeführte) Aktionen anzusetzen, und dabei immer weiter die Kontrolle über den Trainingspartner zu gewinnen.
Darüber hinaus geben wir ihm keine, oder nur unvollständige „Informationen“, die ihn mehr verwirren, weil er nichts hat, an dem er sich orientieren kann. Wir setzen also zu einer Bewegung, zu einer Technik an, gehen jedoch dann schon zur nächsten über, bevor sich Uke darauf einstellen kann. Beziehungsweise nutzen wir es aus, wenn/dass sich der andere darauf einstellt, darauf reagiert, was wir vermeintlich gerade mit ihm „tun“.
Ein sehr großer, weiterer Vorteil ist, dass wir uns nicht selbst „festlegen“, und „auf Teufel komm raus“ diese oder jene Technik durchsetzen wollen, obwohl der Gegner instinktiv
darauf reagiert und dagegen arbeitet. Wir setzen an, und lassen die „Technik“ (was auch immer) dann einfach „fallen“; oftmals „fällt“ der Angreifer dann in diese entstandene Lücke,
weil der anfängliche Druck, Hebel, Wurfansatz, der ihm einen „Halt“ gab (so merkwürdig das auch klingen mag), plötzlich wieder weg ist. In dem Moment, in dem Uke in diese Lücke fällt, ändert man den Hebel, die Wurfrichtung, den Druck, was auch immer, in eine für ihn völlig unerwartete Richtung.

Im Grunde zeigt einem der Trainingspartner bzw. der Gegner, was er als nächstes möchte, um weiter aus der Balance gebracht zu werden. Wir helfen ihm nur dabei, seinen Kopf auf unsere plötzlich bereitstehende Faust zu drücken, sein Auge auf unseren Zeigefinger zu setzen, seinen Arm in einem denkbar ungünstigem Winkel von sich zu strecken, und dabei völlig das Gleichgewicht zu verlieren. Wenn er sich an uns lehnt, weil wir gerade einen Schulterwurf ansetzen, führen wir keinen Schulterwurf aus, sondern gehen unvermittelt zur Seite, und lassen einen leeren Raum („kukan“ 空間) entstehen, in den unser Partner/Gegner gerne fallen darf. Wenn er gegen den Druck am Ellenbogengelenk arbeitet, weil wir einen Muso Dori (Armstreckhebel) ansetzen, dann geben wir dem nach, und bewegen uns ansatzlos und ohne „Wollen“ mit dem Gegner ein einen Musha Dori (offenbar ist ihm dieser ja lieber…)usw.

Letztlich heißt es doch für uns, gar nichts zu „tun“ im Sinne von „machen wollen“. Denn alles, was wir tun, wird eine Reaktion hervorrufen. So ist das im Universum nun einmal geregelt, wenn man ganz pathetisch sprechen möchte. Wenn ich meinen Fuß an diesem Ufer des Sees ins Wasser setzen, wird die Libelle auf dem Seerosenblatt in 300 Metern Entfernung die Bewegung der Wasseroberfläche spüren, und losfliegen. Sicher hat auch jeder schon von der Chaostheorie und dem Schmetterlingseffekt gehört. Wenn ich jemanden am Kragen packe, und mit einer Außensichel werfen will, wird er sich wehren, und mir mit der Faust ins Gesicht schlagen, oder mit mir in den infight gehen, und ordentlich raufen – Kraft gegen Kraft.
Umgekehrt kann man die Reaktion jedoch auch nutzen. Wenn ich also in der Bewegung meinen Zeigefinger unvermittelt zum Auge des Angreifers führe, wird er zurückzucken, ob ich hineinstoße, oder nicht. Ich muss also gar nicht unbedingt ins Auge stoßen, um eine Reaktion zu bekommen. Man muss also nichts „tun“, sondern sich einfach nur „positionieren“, nur „da“ sein, „bereit/offen“ sein.

Wie ist das denn im Leben so? Wer von euch (zumindest die etwas Lebenserfahrenen) kennt das nicht? Man möchte endlich einen Freund/eine Freundin haben, eine Beziehung. Und es ist wie verhext. Irgendwie dauert es schier ewig, bis man jemanden kennenlernt, obwohl man es doch so sehr will. Meistens hat es doch dann „geklappt“, wenn man gar nicht damit gerechnet hat. Wenn man nicht „auf der Pirsch“ war. Wenn man nicht (unsicher und verkrampft) eine(n) nach der/dem anderen angesprochen hat. Oder man ist schon vergeben, und wird plötzlich selbst immer wieder angeflirtet, obwohl man einfach nur „da“ ist, „offen“ und gut gelaunt in und mit der Situation und der Umgebung mitschwingt. Wer hatte nicht schon eine Diskussion oder einen waschechten Streit mit anderen Menschen. Ist es da nicht auch häufig so gewesen, dass es besser ist, den anderen erst einmal „aus der Reserve“ kommen zu lassen, um auf seine Thesen oder Argumente gezielter eingehen zu können? Oder ist man erfolgreicher, wenn man sich selbst gleich zu Anfang „zu sehr aus dem Fenster lehnt“? Ergeben sich nicht oftmals Lösungswegen, wenn man dem
anderen erst einmal zuhört, und auf ihn eingeht? Und nicht einer nur seine Argumente und Meinungen dem anderen an den Kopf wirft, ohne selbst zuzuhören?
Und wer hat Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Was funktioniert hier besser? Die „harte Tour“? Klare Vorgaben, wie etwas wann und wo genau zu laufen hat?
Oder ist es nicht für das Resultat zielführender, die Kinder oder auch die Heranwachsenden in ihrem Tun derart zu „unterstützen“, dass man gemeinsam die richtige Richtung einschlägt?

Helfen statt zwingen?
Möglichkeiten offen lassen?
Frei bleiben im Geist und im Handeln?
Weder den anderen, noch sich selbst fixieren oder blockieren? Nicht alles fertigzukochen?
Chuuto hanpa?

Noda, Japan, 03.11.2015